Harmonie mit der Natur
Für die Indianer Nordamerikas stand die Harmonie schom immer im Mittelpunkt des Lebens. Sie ist die Quelle des Wohlbefindens, der Hort der Gesundheit. Lebt ein Mensch nicht mehr im Einklang mit seiner natürlichen oder sozialen Umwelt, dann stört er die Harmonie und wird krank.
Jede Krankheit, jeder Schmerz hat seinen Ursprung. Das ist der Preis, den man zahlen muß, für eine Tat in der Vergangenheit oder aber in der Zukunft. Doch was sich im Körper ausdrückt, ist nicht das Wesentliche. Die Fähigkeit zu heilen verlangt mehr als das bloße Wissen um den Körper. Sie umfaßt alle Lebensbereiche.
Indianische Medizin ist also mehr als die Behandlung von Krankheiten. Sie ist vor allem Religion: Sie stiftet Identität durch Rituale, schafft Zusammenhalt durch Gemeinschaftserlebnisse. Sie befriedigt seelische und emotionale Bedürfnisse durch ihre Spiritualität. Indianische Medizin ist aber auch Kräuterheilkunde, Psychoanalyse und Philosophie.
Die indianischen Medizinmänner sind häufig Menschen, die sogenannte Nah-Tod-Erlebnisse hatten – zum Beispiel nach einer erlittenen Krankheit. Sie verschafften ihnen eine Sonderrolle in der Gesellschaft. Eine alte indianische Erkenntnis sagt über den weiten Weg zum Schamanentum:
Uralte Rituale
Die Behandlungsmethoden und die Ausrüstung des Schamanen variieren von Stamm zu Stamm. Zum medizinischen Handgepäck gehören Trommel, Rassel, Schalen und Mörser, kleine Holzfetische, Adlerfedern, Bergkristalle, Pfeilspitzen und Steinbeil. Das wichtigste medizinische Amulett aber ist der Lederbeutel. Er besteht aus der Haut eines heiligen Tieres und enthält zum Beispiel Hirschschwänze, getrocknete Finger und oft den Magenstein eines Büffels. Diesem Bündel werden starke magische Kräfte zugeschrieben. Seit Urzeiten geht es vom Vater auf den Sohn oder den neu initiierten Schamanen über.
Ebenfalls uralt und immer noch gebräuchlich ist das indianische Schwitzhütten-Ritual. Die Schwitzhütte, eine Art Sauna, wird kurz vor Wintereinbruch zur Reinigung von Körper und Geist gebaut. In ihrem stockfinsteren Innern dienen rotglühende Steine als Ofen, die von Zeit zu Zeit mit Wasser und Heilkräuterauszügen begossen werden. Aromatischer Dampf durchwabert die Hütte, in der drei oder vier Stammesangehörige liegen. Im Dunkeln sind sie den Göttern nahe und kehren symbolisch in den Schoß von Mutter Erde zurück.
Solche Rituale und Zeremonien sollen die gestörte Harmonie wiederherstellen. Schamanen sind dabei die Mittler zwischen Jenseits und irdischer Wirklichkeit. Sie sprechen mit den Göttern und versöhnen die Geister. Oft sind sie aber auch politische Führer (Sitting Bull, Joseph, Geronimo und andere berühmte Indianerhäuptlinge Nordamerikas waren zugleich Schamanen).
Heilkunst der Indianer
Wie die westliche Medizin kennt auch die indianische Heilkunst Spezialisierungen. Es gibt die reinen Diagnostiker und die “Mashki-kike-winini”. Diese Kräuterspezialisten sind oft Frauen. Sie kurieren mit Blättern, Beeren und Wurzeln. In einer Art indianischer Homöopathie, die Gleiches mit Gleichem behandelt, setzen sie ihre Heilmittel gegen die krankheitsverursachenden Geister ein. Bittere Tränke sollen die Dämonen aus Magen und Darm vertreiben, gelbe Blütenpflanzen die Geister der Gelbsucht, rote die von Blutkrankheiten und feuchte Moose jene, die Lungenleiden verursachen.
Solche Therapien klingen eher nach Aberglaube als nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Doch die Ergebnisse der indianischen Medizin sind überraschend. Schon vor Jahrhunderten heilten die “Mashki-kike-winini” mit dem Saft von Feigenkakteen Skorbut, rückten mit Schimmelpilzen der Diphterie zu Leibe und lösten schmerzende “Verhexungen” mit Kokablättern.
Wenn die Pflanzen versagen und die Geister nicht weichen wollen, nimmt der Schamane direkten Kontakt mit den Dämonen der Krankheit auf. In oft tagelangen Zeremonien kämpft er mit dem Bösen und versöhnt die Götter.
Visionäre Kraft der Schamanen
Die visionäre Kraft des Schamanen ist in vielen indianischen Kulturen untrennbar mit der Einnahme von Psychodrogen verbunden. Bewusstseinsverändernde Pilze und Kakteen wie “Teonanacatl” oder “Peyote” öffnen den Weg ins Schattenreich. Der Schamane wendet sich hin zu inneren Bildern, sein Bewusstsein reist durch die Unterwelt, und er identifiziert die Dämonen der Krankheit.
An den Heilritualen sind immer die Familie und die Freunde, häufig sogar der gesamte Stamm des Kranken beteiligt. Wichtigster Heilmechanismus ist die Zugehörigkeit zur grossen medizinischen Gesellschaft, zur Gemeinschaft des Stammes. Noch heute sind die “Sonnentänze”, durch die ein ganzes Volk von krankmachenden Einflüssen befreit wird, Höhepunkte im Leben der nordamerikanischen Indianer.
Verlorenes Wissen
Von den Weißen wurden die Schamanen von Anfang an als Betrüger geächtet. Christliche Missionare verdammten ihre Riten, vernichteten ihre “gottlosen” Amulette und Fetische. Der Grund: Die Medizinmänner widersetzten sich entschieden der neuen christlichen Heilslehre. Sie waren Gegner und Konkurrenten der Priester.
Ihr schlimmstes Vergehen aber war ihr Erfolg. Sie kurierten nicht nur Indianer – auch hinfällige Weiße konnten dank indianischer Hilfe das Krankenlager verlassen. Mehr als 200 ursprünglich indianische Medizinpflanzen übernahmen die weißen Siedler nach und nach in ihre Volksapotheke. Vor allem im Nordwesten der USA war der indianische Einfluß stark, und viele weiße Kräuterkundige bezeichneten sich stolz als “Indian Doctors”.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde den Schamanen das Leben besonders schwer gemacht. In zahlreichen US-Bundesstaaten traten Verbote von Heilritualen in Kraft. 1887 setzte Washington schließlich die gesamte indianische Kultur auf den Index und untersagte den Ureinwohnern jegliche Ausübung religiöser und medizinischer Riten. (Erst 1934 wurde das Verdikt aufgehoben.)
Erst in unserem Jahrhundert befaßte sich auch die westliche Wissenschaft intensiver mit indianischer Medizin. Aber vieles ist unwiederbringlich verloren. Zwar haben in den Indianerreservaten manche Heilmethoden überlebt. Doch es gibt nicht mehr viele Schamanen. Ihre Ausbildung dauert Jahre, manchmal Jahrzehnte, und es fehlt an Nachwuchs. Da es keine indianische Schriftsprache gibt, müssen die Jungschamanen alle Gebete und Gesänge auswendig lernen. Manche der Zeremonien aber umfassen eine halbe Million Worte. Und die Götter und Geister unterstützen den Schamanen nur, wenn die Rituale bis ins kleinste Detail Stimmen.